Kapitel 1
Tess
saß mit einem Becher Kaffee im Garten, die Beine angezogen, und genoss die
angenehme Morgenluft. Die Sonne war bereits aufgegangen, aber noch hinter einem
märchenhaften Dunstschleier verborgen, wo sie vermutlich gerade damit
beschäftigt war, ihre Kräfte zu sammeln, um sie dann mit geballter Macht auf
die Erde zu schicken.
Seit Wochen hielt eine ungewöhnliche Hitzewelle
England und den Rest Europas fest in ihren glühenden Fingern und hatte
mancherorts sogar die trockenen Gehölze in Brand gesetzt. Newtown war von
riesigen Wäldern umgeben und Tess hoffte, dass ihnen dieses Schicksal erspart
bliebe. Für die Gestaltwandler, die sie für ihre regelmäßigen Verwandlungsausflüge
nutzten, wäre es eine Katastrophe.
Sie musste grinsen, als ihr klar wurde, dass bis
vor zwanzig Jahren niemand einen Gedanken daran verschwendet hätte. Doch dann
hatten sich Werwölfe, Dämonen, Vampire und viele andere Kreaturen in einem
bisher einzigartigen Anflug von Gemeinschaftssinn der Öffentlichkeit gestellt
und der Menschheit offenbart.
Seitdem lebten sie überall auf der Welt frei unter den
Menschen, wobei frei häufig nur im übertragenen Sinne zu verstehen war.
Man wusste nun, dass es viele der Monster aus den Schauermärchen tatsächlich
gab, aber das hieß noch lange nicht, dass die Leute sie mochten.
Der Umgang war auf beiden Seiten von Misstrauen, Furcht und
nicht zuletzt auch Hass geprägt, was dem Ganzen eine gewisse Ironie verlieh.
Immerhin hatten die Mitbürger mit andersartigem Abstammungshintergrund,
wie sie politisch korrekt genannt wurden, schon immer unter den Menschen
gelebt – und hätten somit wissen müssen, wie diese tickten. Obwohl sowohl
die Regierungen als auch die Stadtverwaltungen darum bemüht waren, die neuen
Bürger zu integrieren und Gesetze sowie andere Möglichkeiten der Koexistenz
und Begegnung schufen, blieb die Teilung in zwei Lager bestehen.
Sie seufzte und blickte über den mit Frühnebel verhangenen
Garten hinweg zum nahen Waldrand, aus dem sich gerade mit bedächtigen, aber
kraftvollen Schritten eine Löwin näherte.
Sie blieb in einiger Entfernung stehen und sah Tess aus
gelben, stets ein wenig traurig wirkenden Augen an, das Maul mit den gewaltigen
Zähnen geöffnet. Tess erhob sich aus dem Stuhl, langsam, da sie wusste, wie
empfindlich das Tier auf plötzliche Aktionen reagierte – und wie schnell.
Erneut wurde ihr bewusst, wie schutzlos und ausgeliefert der Mensch den Monstern
im Grunde war.
Gemächlich, fast schon königlich setzte sich die Löwin
ebenfalls in Bewegung, direkt auf sie zu, die Augen nicht länger müde, sondern
hellwach. Den Blick fokussiert. Kalt. Tödlich.
Furcht kroch Tess über den Rücken, doch sie zwang sich,
stehen zu bleiben. Die Löwin würde riechen, wenn sie Angst hatte, und das würde
sie reizen und ihren Jagdinstinkt anstacheln. Tess wäre dann vor allem eines:
Beute.
Sie senkte den Blick und atmete tief ein.
Eine heiße Welle von Wut, Gier und Angriffslust schoss
plötzlich durch ihren Körper und sie schrie, ehe sie es verhindern konnte, übermannt
von der Intensität und Wildheit der Gefühle. Heraus kam ein wölfisches Heulen,
das sofort von anderer Stelle beantwortet wurde. Angestachelt von dem Gedanken
an das Rudel und gemeinsame Jagden machte sie den überschäumenden Emotionen
erneut mit einem angriffslustigen Jaulen Luft. Sie wollte laufen, den Wind in
ihrem Fell spüren. Jagen. Fressen!
Jemand verpasste ihr einen Stoß an die Schulter und
Tess drehte sich um.
»Nun krieg dich mal wieder ein!« Ein junger Werwolf sah sie
mürrisch an. Er war in seiner menschlichen Gestalt, trug legere sandfarbene
Shorts und ein Muskelshirt.
Tess hatte ein besonderes Gespür für die Monster und
erkannte ihn dennoch als Werwolf. An seiner langen, spitzen Nase blitzte ein
silbernes Piercing, was sie für einen Moment irritierte.
Erst dann nahm sie wahr, dass sie nicht nur gesprungen war,
sondern sich zudem in einem Raum mit niedriger Decke befand. Dem muffigen
Geruch nach zu urteilen in einem Keller. Und dass sie nicht allein war.
Mit den fremden Händen hielt sie eine junge Frau, kaum alt
genug, um als solche bezeichnet werden zu können, an den nackten Schultern
gepackt, die angstvoll zu ihr aufblickte.
Die etwa schulterlangen, tiefschwarzen Haare hingen ihr
strähnig in das blasse Gesicht. Die ebenfalls farblosen Lippen hatte sie zu
kleinen Strichen zusammengepresst. Ihre rechte Wange leuchtete rot, als hätte
sie gerade jemand dorthin geschlagen.
Erschrocken ließ Tess sie los und trat einen Schritt zurück.
Auch auf den Schultern hatten ihre zwar menschlichen, aber übernatürlich
starken Finger deutliche Spuren hinterlassen. Sie würden schnell verschwinden,
versuchte sich Tess zu beruhigen, immerhin war die Kleine unverkennbar eine Vampirin,
aber den Schmerz hatte sie dennoch gespürt.
Sie sah sich rasch um. Wie sie vermutet hatte, befand sie
sich in einem Kellerraum, der mit Kartons, Kisten, ausrangierten Stühlen und
einer Vielzahl kleiner Käfige zugestellt war, die man vielleicht für die Kaninchenjagd
benutzen würde.
Das unter der Decke angebrachte längliche Fenster war mit
Zeitungspapier und Malerkrepp abgeklebt worden. Eine Ecke hatte sich gelöst,
so dass ein Strahl Sonnenlicht hereinfiel, dem die Vampirin instinktiv auswich,
indem sie leicht seitwärts geneigt auf dem alten Stuhl saß, der direkt darunter
platziert war.
Sie war mit Ketten festgebunden. Ihre Handgelenke waren
blutverschmiert, schienen aber bereits zu verheilen. Auch sie trug Sommerkleidung,
allerdings überwiegend in Schwarz, und eine ihrer klobigen Sandalen fehlte.
Was, zum Teufel, ging hier vor sich?
Tja, was da vor sich geht, könnt ihr ab Mai 2019 selbst nachlesen.
Die Seelenspringerin - Götterhauch
Überall, wo es Bücher gibt.
Signiert auch direkt bei mir.
Einfach eine E-Mail schreiben und bestellen.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen
Ihre Nachricht wird nach Überprüfung freigeschaltet.
Wenn Sie auf meinem Blog kommentieren, werden die von Ihnen eingegebenen Formulardaten (und unter Umständen auch weitere personenbezogene Daten, wie z. B. deine IP-Adresse) an Google-Server übermittelt. Mehr Infos dazu finden Sie in meiner Datenschutzerklärung (https://sandraflorean-autorin.blogspot.de/p/impressum.html) und in der Datenschutzerklärung von Google (https://policies.google.com/privacy?hl=de)
Sie sind nicht verpflichtet, Ihren vollen Realname anzugeben, sondern können auch anonym einen Kommentar hinterlassen!