»... und nun verlangt Lucia von ihnen, drei Aufgaben zu
meistern. Erst dann wird sie sich überhaupt mit ihnen treffen wollen«, raunte
Octavian ihr zu.
Er hatte sich so weit zu Tess herüber gelehnt, dass
sie seine Lippen fast an ihrer Haut zu spüren meinte. Sein Atem blies ihr in
den Nacken, streifte ihre Wange, als er nun den Blick wieder auf die Bühne
richtete. Ein wohliger Schauer kroch ihr über den Rücken und verursachte ihr
eine Gänsehaut.
Sie saßen im Theater. Nicht im Remington Theatre, das vor
allem Andersartige anzog, denn dort wäre ein Besuch an der Seite des
Vampirgebieters einem Spießrutenlauf gleich gekommen. Die Monster lebten seit
einigen Jahren frei unter den Menschen, jeder wusste, dass es Vampire,
Werwölfe, Dämonen und noch viele andere übernatürliche Kreaturen wirklich gab.
Dennoch unterhielten die Andersartigen eigene Treffpunkte, die nicht immer auch
den Menschen zugänglich waren. Das Royal Remington war so ein Ort. Ein
Treffpunkt für die Schönen und Einflussreichen der Monster, an dem es vor allem
darum ging, gesehen zu werden, seine Macht zu demonstrieren und zu intrigieren.
Octavian wusste, dass Tess derartige Aufmerksamkeit hasste.
Außerdem diente dieses Treffen einem anderen Zweck.
Also hatte er stattdessen das herkömmliche Staatsopernhaus
für ihr Date gewählt und eine Oper im klassischen Stil ausgesucht. Allerdings
wurde sie auf Italienisch aufgeführt – er meinte, jede Oper, die etwas auf
sich hielte, müsse in Italienisch vorgetragen werden. Da sprach möglicherweise
der Nationalstolz aus ihm, den er auch nach Jahrhunderten auf dieser Erde nicht
abgelegt hatte. Vielleicht genoss er es aber auch nur, einen Vorwand zu haben,
ihr immer wieder näher zu kommen, um ihr einige wichtige Details zu übersetzen.
Tess störte es nicht. Im Gegenteil. Sie genoss diese eher
zufälligen kleinen Berührungen und fühlte sich durch Octavians Flüstern, die
farbenfrohen Kostüme der Darsteller, die wundervolle Musik zusammen mit dem
historischen Bühnenbild wie verzaubert und an einen anderen Ort versetzt. Einen
Ort, an dem es kein Grauen, keinen Schmerz und keine Bösartigkeit gab, sondern
nur Musik, Lachen – und Liebe.
Ein Traum, in dem sie gern länger verweilen wollte.
Sie wandte ihm das Gesicht zu. Er hatte sich wieder in
seinem Polstersessel zurückgelehnt und blickte zur Bühne. Ein kleines Lächeln
umspielte seine sinnlichen Lippen. Mit Sicherheit wusste er, dass sie ihn ansah –
oder aber er fühlte sich selbst in eine Zeit zurückversetzt, die er tatsächlich
erlebt hatte. Eine Zeit der Tuniken und Pferderennen, Gladiatorenkämpfe und
Sklaven. Ausschweifenden Verzückungen und politischen Intrigen.
Octavian hatte ein Profil, an dem man seine römische
Herkunft erahnen konnte: eine starke Nase, hohe Stirn und kräftige, aber
gepflegte tiefschwarze Brauen über braunen Mandelaugen. Die dunklen Haare
fielen ihm bis auf die Schultern und berührten dort das modern geschnittene
Jackett aus feinster, leicht glänzender Schurwolle, das ebenso teuer gewesen
sein mochte, wie es aussah.
Er drehte leicht den Kopf, bis er sie von der Seite ansehen
konnte. Sie saßen allein in einer Loge mit bester Aussicht auf die Bühne und
geschützt vor den neugierigen Blicken der anderen Opernbesucher. Tess wollte
nicht wissen, was ihn dieser Platz gekostet hatte, aber Octavian konnte es sich
leisten. Er war unverschämt wohlhabend, als ältester Vampir, den sie je
getroffen hatte, einschüchternd mächtig und ein verdammt attraktiver Mann. Den
meisten zeigte er zwar nie sein wahres Gesicht, aber sie kannte es. Sie stand
ihm näher als irgendjemand sonst. Und genau das machte ihr immer noch Angst.
Aber sie hatte sich geschworen, diese Furcht zu überwinden.
Obwohl sie kein Paar waren, sondern sie sich vor einigen
Monaten unmissverständlich von ihm abgewandt hatte, waren ihre Gefühle
füreinander gewachsen. Leider konnte man sich in einer Stadt wie Newtown nicht
lange aus dem Weg gehen und es kam erschwerend hinzu, dass Tess zum Inneren
Kreis des Vampirgebieters gehörte, seinen engsten Vertrauten, und ihm deshalb
zwangsläufig immer wieder begegnete.
Vor einiger Zeit hatte sie erkannt, dass ihre Gefühle und
dieses Band, das sie bereits so fest miteinander verknüpft hatte, nicht
verschwinden würden. Sie liebte ihn und er sie. Und das Leben – ihr
Leben - war zu kurz, um sich dagegen zu wehren und sich nicht darauf
einzulassen.
Trotz dieser Erkenntnis tat sie sich schwer damit, sich
ihren Gefühlen zu stellen und sie anzunehmen. Er hatte sie enttäuscht, indem er
ihr Lügen aufgetischt hatte. Lügen, die sie im Nachhinein zwar nachvollziehen
konnte, die sie aber tief verletzt hatten. Viel tiefer, als sie sich
eingestehen mochte. Liebe war immer auch ein Risiko und sie war lange Zeit
nicht bereit gewesen, es einzugehen.
Bis jetzt.
Sie musste nur die Hand ausstrecken oder ihm ein anderes
Signal geben. Es lag an ihr. Das hatte Octavian ihr klargemacht. Bis sie den
ersten Schritt tat, würde er warten. Wie er es auch jetzt tat, während er sie
ansah. Abwartend, mit einer schier unerschöpflichen Geduld, die nur eine derart
lange Lebensdauer hervorbringen konnte. Oder die Überzeugung, dass er am Ende
belohnt werden würde.
Octavian war ein gerissener Stratege, einem stets mehrere
Schritte voraus, als würde er die Zukunft bereits kennen, müsste nur die
Weichen stellen und könne sich dann zurücklehnen und alles geschehen lassen.
Vielleicht war es tatsächlich so. Obwohl Tess ihm näher stand als alle anderen,
bewahrte er seine Geheimnisse und es gelang ihr nie, vollends hinter seine
Fassade zu blicken. Wahrscheinlich sollte es sie ärgern. Bei jedem anderen
hätte sie angenommen, er würde ihr nicht vertrauen. Nicht bei Octavian. Sie
wusste, dass er ihr vertraute. Denn die Geheimnisse, die er ihr offenbart
hatte, waren brisanter und für ihn lebensgefährlicher als alles, was er noch
verbergen mochte. Sie wusste, wer er wirklich war. Sie kannte sein wahres
Alter, hatte seine heimliche Macht gesehen und wusste, dass sie selbst seine
Achillesferse war. Wollte man Octavian ernsthaft schaden – und er hatte
wie alle mächtigen Männer eine Menge Feinde – würde es über sie geschehen.
Aber nicht, indem man sie tötete, denn das würde diese unbändige Macht nur
entfesseln und dann Gnade ihnen Gott.
Tess schauderte und schob diese Gedanken ganz weit fort.
Seit sie in die Seelen der Andersartigen springen konnte, hatte sie genug
gefährliche Abenteuer für drei Leben erlebt. Der heutige Abend gehörte ihr und
Octavian.
Noch immer umspielte das kleine Lächeln seine Lippen, das
sie schon so gut kannte und ihr Herz jedes Mal höher schlagen ließ.
Er hatte ihr schon so oft bewiesen, dass es ihm ernst mit
ihr war. Obwohl sich ihm die Frauen reihenweise zu Füßen warfen, machte er ihr,
Maria Teresa Billington, nach allen Regeln der Kunst den Hof. Und nur ihr. Seit
ihrem Bruch hatte er keine andere Frau mehr in seiner Nähe, geschweige denn in
seinem Bett gehabt.
Tess schluckte und wünschte sich plötzlich nichts mehr, als
ihn einfach zu küssen. Damit diese Barriere, die sie selbst zwischen ihnen
aufgetürmt hatte, endlich überwunden war und hoffentlich daraufhin verschwinden
würde. Sie gab sich einen Ruck und beugte sich leicht vor. Octavian rührte sich
nicht, aber etwas in seinem Blick veränderte sich. Ganz leicht nur und im
schummrigen Licht der Loge schwer zu erkennen. Aber sie kannte sein Gesicht so
gut, dass es ihr nicht entging.
Ihr stockte der Atem, aber sie lehnte sich weiter vor und
hob die Hand, um ihn anzufassen.
Dieses Mal würde sie nicht kneifen. Sie würde endlich seine
Lippen auf ihren spüren. Sie würde ...
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